Der Nationalpark Valgrande liegt in Norditalien, westlich des Lago Maggiore und ist die größte Wildnis sowohl der Alpen als auch Italiens. Er besteht aus 2 Haupttälern, dem Valgrande mit seinen 5 Nebentälern und dem Val Pogallo. Das eigentliche Valgrande ist sehr steil und schmal, und nicht zugänglich. Es führt jedoch ein alter Weg hindurch, der Schluchtweg. Er ist jedoch aus guten Gründen gesperrt und sollte unter keinen Umständen begangen werden. Während das Val Pogallo von Verbania über Cicogna erreichbar ist, sind die Nebentäler des oberen Valgrande nur auf Wanderwegen über die rund 1800m hohen Pässe erreichbar. Im Nationalpark gibt es ein Netz von markierten Wegen und unbewirtschaftete frei verfügbare Hütten, die die Nationalparkverwaltung pflegt. Sie befinden sich meist auf verlassenen Almen (dort Alpe genannt) und bestehen aus einem oder mehreren wiederhergestellten Almgebäuden.
Unsere Route begann im Norden des Parks, wo wir von Malesco aus ins Val Loana fuhren. Einer Runde über den Nord- und Westgrad des Valgrande folgte eine Durchquerung und der Übergang über das Pedum-Massiv ins Val Pogallo, von wo es über einen Teil des Sentiero Bove wieder zurück zum Val Loana ging.
Wir nannten 2 Karten unser Eigen, die Karte Parco Nazionale Val Grande 1:30.000 von Zanetti (ISBN: 9788887982664) und die Domodossola-Karte 1:50.000 von SwissTopo (ISBN: 978330230285). Während die erste alle Wege aufführt, die es gibt, enthält sie auch einige Wege, die es nicht gibt. Abseits der markierten Wege ist diese Karte leider teilweise sehr unzuverlässig. Die zweite Karte dagegen verzeichnet wesentlich weniger Wege, es fehlen einige gut begehbare Wege. Vom Kartenbild ist die Zanetti-Karte etwas gewöhnungsbedürftig, aber nach einiger Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und finde sie inzwischen sehr informativ. Mit der SwissTopo-Karte bin ich dagegen nicht recht warm geworden. Der Kontrast ist relativ gering und ich fand sie, obwohl schattiert, etwas unübersichtlich.
Der Aufstieg begann durch ein Nebental des Val Loana, vorbei an der Alpe Basso. Diese Sommers bewirtschaftete Alm überraschte uns mit vielen Tieren. Es gab Schweine, Ziegen, Esel, Kühe und natürlich Hunde. Der dort erzeugte Käse schmeckt fantastisch!
Die erste Übernachtung fand im Bivacco Alpe Bondolo statt, wo auch noch Viehhaltung stattfindet. Die Rinder und Ziegen dort tragen fast ausnahmslos Glocken, mit denen sie auch nachts im direkt unter dem Schlafboden befindlichen Stall intensiv bimmeln.
Der nächste Tag begann mit dem Aufstieg zum Bocchetta di Vald und bescherte uns einen ersten Blick auf das obere Valgrande. Dort wandten wir uns auf einem unmarkierten Pfad nordöstlich zum Monte Togano.
Der Weg ist an vielen Stellen kaum zu sehen und wird von vielen Tierspuren überlagert, die von den frei herumziehenden Ziegen- und Schafherden getreten werden. Nach und nach kam das Valgrande in seiner ganzen Wildheit zum Vorschein. Auch der Weg hatte seine Tücken, so mussten wir die Südflanke des Pizzo Nona durch ein steiles steiniges Feld traversieren, auch dort war der Weg nur selten gut sichtbar. Ab dem Passo Biordo ging es dann auf markiertem Weg hinauf zum Monte Togano.
Der Monte Togano ist mit 2301m der höchste Berg des Valgrande, aber mitnichten der schroffste. Er hat 2 Gipfel, der nördliche niedrigere Gipfel ist mit einer Antennenanlage bebaut und ein Grat führt zum südlichen Hauptgipfel. Der Abstieg von dort verlief für uns etwas abenteuerlich, da der Weg wiedereinmal vollständig verschwand und wir weglos den steilen Grashang hinab kraxelten.
Auf markiertem Wege ging es, nahezu eben, vom Passo di Basagrana in Richtung Pizzo Mottac (von den Italienern vor Ort Mottaz ausgesprochen!). Da wir jedoch an der Alpe Menta außerhalb des Nationalparks einen Zeltplatz zu finden hofften, überquerten wir den Grat zwischen Punta Tignolino und Testa di Menta. Der verzeichnete Weg war bald nicht mehr zu finden (vermutlich kreuzte er den Grat näher am Punta Tignolino, und nicht an der tiefsten Stelle) und so stiegen wir weglos bergan. Die letzten 20m waren, mit Wanderrucksäcken nicht unbeachtlich, eine Kletterpassage, die jedoch ohne Probleme bewältigt ward.
Auf dem Grat fanden wir auch einen Pfad, der uns abwärts in Richtung Alpe Menta führte, den verloren wir jedoch, als die Vegetation höher und der Weg dringender gebraucht wurde. An der Alpe angekommen erwies sich das Gelände als nicht zeltgeeignet und auch die Hütten waren in einem sehr schlechten Zustand. Wiewohl schon spät, gingen wir noch zum Bivacco Alpe Rina, ½h Fußmarsch entfernt, entgegen unserer weiteren Route. Dieser Abstecher erwies sich jedoch als Glücksfall, denn dort waren die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 10 Geburtstag der Hütte zuendegegangen, und die Organisatoren, 5 Italiener älteren Semesters ohne Englischkenntnisse, saßen mit viel übrigem Essen im Bivacco. So wurden wir verköstigt mit Polenta, Fleisch, Kartoffeln, Paprika, Wein, Bier und später sogar Grappa und unterhielten uns mithilfe unseres wandelnden Wörterbuchs und einigen Spanischkenntnissen bis spät in die Nacht.
Der nächste Morgen grüßte uns mit strahlendem Sonnenschein und Blick auf Monte Rosa und Monte Leone. Nach dem Frühstück mit unseren netten Gastgebern kam ein Hubschrauber und holte die übrigen Reste ab. Unser Weg führte zurück zur Alpe Menta und von dort zur Alpe Ragozzale. Dort steht ein Bivacco des Nationalparks, es ist jedoch durch Tiere verwüstet und nicht mehr benutzbar. Vermutlich hat ein unachtsamer Wanderer die Tür offen gelassen und eine Schafherde hat sich des Bivaccos als Stall bedient. Das ist sehr schade, denn der Blick von der Hütte ist einfach umwerfend.
Über den Pizzo Desen führte uns ein gut sichtbarer unmarkierter Pfad zum Punta Pozzolo mit grandioser Aussicht auf das Ossola-Tal und die dahinter befindlichen Berge. Der weitere Weg auf dem Westgrat zwischen Pozzolo und Punta della Rossola erwies sich jedoch, obwohl in der Zanetti-Karte als Pfad vermerkt, als unwegsam. Das haben wir jedoch erst auf dem Grat bemerkt, und entschieden uns für einen wilden Abstieg über einen Rücken ins Valgrande. Der auf diesem Rücken vermerkte Pfad war bis zur Baumgrenze gut begehbar, und wurde dann immer schlechter sichtbar. Einen wilden und definitiv nicht zu empfehlenden Abstieg quer durch den Hang später erreichten wir den markierten Pfad zwischen Curt di Gubitt / Alpe Quagiui und Alpe Val Gabbio. Da es schon spät und die nächste Hütte noch weit war, blieben wir über Nacht in einem halbwegs intakten Gebäude der Alpe Borgo delle Valli.
Im Rio Val Gabbio haben wir, trotz großer Strömung, mehrmals gebadet. An der Hütte nur kurz, zum abkühlen, aber am nächsten Tag an der Brücke nahe Alpe Val Gabbio noch sehr ausführlich. Die Alpe Val Gabbio war auch einmal ein Bivacco des Nationalparks, ist jedoch inzwischen wegen Einsturzgefahr geschlossen (Pericolo di Crollo!). Auf dem weiteren Weg in Richtung In la Piana, dem Zentrum des oberen Valgrande, kamen wir auch am Einstieg in den verbotenen Schluchtweg vorbei. Dort steht ein Schild, das (zu Recht!) eindringlich vor dem Begehen warnt.
Von In la Piana folgte dann der lange und steile Anstieg durch Buchenwälder nach Scaredi. Zwischendurch gabs noch eine Bademöglichkeit und wir konnten Gämsen beim Spielen auf einem Schneefeld beobachten.
In der Scaredi-Hütte trafen wir einen Wanderer, den wir schon vom ersten Abend in der Bondolo kannten.
Am nächsten Tag ging es, in strahlendem Sonnenschein, hinauf zum Bocchetta di Scaredi, von wo aus wir schon das Bivacco auf dem nächsten Sattel, dem Bocchetta di Scaredi, sehen konnten. Dieses liegt malerisch zwischen dem Valgrande und dem Val Pogallo, unterhalb des Cima Pedum. Als einziges (?) Bivacco ist es keine ehemalige Alm, sondern eine Berghütte des C.A.I. (Club Alpino Italiano) aus dem 19. Jahrhundert. Das zweistöckige Gebäude beherbergt ein Bivaccio und ein Rifugio der Nationalparkwächter.
Das Panorama auf die umliegenden Bergketten ist grandios, und sogar das Matterhorn war zu sehen.
Angesichts dieser idyllischen Umgebung und einem fordernden weiteren Weg entschieden wir uns, zu verweilen und über Nacht zu bleiben.
Den Tag verbrachten wir mit Erkundungen der Gegend, Lesen und Gämsen beobachten, abends ging dann der Mond blutrot über der Po-Ebene auf.
Am nächsten Morgen begannen wir die berüchtigte Strette del Casé, einen steilen, schroffen und anspruchsvollen Abstieg von Campo nach Pogallo.
Dieser Weg ist kein offizieller Wanderweg des Nationalparks, und daher nicht frisch markiert. Es existieren allerdings alte dunkelrote Markierungen, anhand derer der Weg meistens gut zu finden ist. Er teilt sich in 4 Teile: Die eigentliche Strette des Casé geht vom Bocchetta di Campo auf den Grenze der Nationalpark-Kernzone auf dem Grat des Cima Sasso entlang. Dieses Stück ist nicht besonders lang, dafür aber sehr steil und teilweise etwas ausgesetzt. Zudem geht es stets auf und ab, sodass man viele Höhenmeter bewältigt, ohne großartig abzusteigen. Der Weg ist meist gut zu erkennen, aber nicht immer technisch einfach. An einer Stelle durchklettert man einen Kamit, der aber mit einem alten Geländer und guten Tritten recht einfach zu bewältigen ist.
Danach folgt ein steiler Abstieg über eine grasbewachsene Flanke, dort ist der Weg oft weniger gut zu erkennen und mangels Steinen sind auch die Markierungen rar. Der Weg ist hier nicht besonders wichtig, so kommt man auch so gut durch das grasbewachsene Terrain.
Diese Flanke verlässt man später durch ein trockenes Bachbett, um in Richtung der Alpe Cavrua eine steile und steinige Wand zu durchsteigen, in der der Weg gut zu erkennen ist. Angesichts der vielen Felskanten ist es hier nicht ratsam, den Weg zu verlieren. Ab der Alpe Cavrua verläuft der Weg 700m steil bergab durch dichten Buchenwald, der Pfad ist hier gut zu erkennen, bis kurz vor Pogallo dentro, wo die Markierungen scharf nach rechts abbiegen und sich der Weg verliert. Man muss dann wild durch den Hang absteigen, bis man den Weg von Pogallo nach Baldesaut findet, wo man sich rechts hält und bald Pogallo erreicht.
Pogallo war früher der Sitz der Firma Sutermeister, die in den Tälern Holz schlug und zu Tal brachte. Aufgrund der Unwegsamkeit der Täler und der steinigen Bäche, die nicht für das Flößen geeignet sind, wurde das Holz größtenteils mit Seilbahnen transportiert. Die Reste der Seilbahnen sind heute noch an manchen Stellen zu entdecken. Ebenso existiert die Ruine des Verwaltungsgebäudes der Firma Sutermeister noch in Pogallo und kündet von vergangenen prosperierenden Tagen des Tals.
In Pogallo wandten wir uns nordwärts, überquerten den Rio Pogallo in seiner tiefen Schlucht auf einer tollen Bogenbrücke und folgten dem Rio Pianezzoli in Richtung der Alpe Pian di Boit. Unterwegs gab es eine ausführliche Badepause im Fluss, und mehrere Flussquerungen. Oft gab es Brücken, aber einmal mussten wir furten. Neben einer Brücke hing eine Drahtbrücke aus 2 miteinander verbundenen Stahlseilen, sicherlich eine alte Hochwasserquerung. Ohne Rucksack hat es Spaß gemacht, sie zu nutzen, mit Gepäck ist das sicher eine Herausforderung. In Pian di Boit trafen wir unseren Bekannten aus der Alpe Scaredi wieder. In diesem Bivacco haben wir zum ersten und einzigen Mal Siebenschläfer gesehen. Das sind kleine mausartige Nagetiere mit großen Augen und Ohren und buschigem Schwanz. Man hört, dass sie viel Lärm machen, aber uns haben sie des Nachts nicht gestört. Allerdings muss man alle Lebensmittel außerhalb ihrer Reichweite lagern.
Am nächsten Tag begann der Aufstieg zum Bocchetta di Terza. Nach einem kurzen Bad im Fluss nahe dem Bivacco ging es mit aufgefüllten Wasserreserven hinan, zuerst durch dichte Buchenwälder, dann über die sehr steile und völlig von Ginster überwucherte Alpe Terza und schließlich durch alpine Vegetation auf den Sattel. Ein gepäckfreier Ausflug auf den Monte Torrione bescherte uns Blicke nach Norden ins Centovalli und entlang der weiteren Route auf dem Nordgrat des Valgrande.
Zurück auf dem Bocchetta di Terza trafen wir einen alten Italiener, der dort auf einen Freund wartete. Nach tagelanger Nachrichtenflaute brachte er frische Nachrichten von der Außenwelt, hauptsächlich vom Brexit. Anschließend ging es entlang des Nordgrats nach Westen, auf dem Sentiero Bove. Dieser Wanderweg umspannt das gesamte Val Pogallo auf dem Grat und ist, wo notwendig, gesichert und markiert. Er wurde in Erinnerung an den italienischen Entdecker Giacomo Bove errichtet. Der herausfordernde Weg mit vielen steilen und steinigen Steigungen führte uns schließlich zum Bivacco an der Alpe Cortechiuso. Dieses ist ein privates Bivacco, und einfacher ausgestattet als die Bivacci des Nationalparks, hat jedoch einen ganz eigenen Charme. Nachts grollte ein Gewitter und durch die Schindeln und den Türrahmen blinkten die Blitze hindurch. Dazu klimperte der Regen auf den Steinschindeln, ein wirklich tolles Erlebnis. In einem Horrorfilm wäre das die Stelle gewesen, wo einer stirbt… Am folgenden anfangs etwas regnerischen Tag stiegen wir nur bis nach Scaredi hinüber, und verbrachten den Tag in der Nähe der Hütte.
Der nächste Morgen weckte uns mit strahlendem Sonnenschein und gewaltigem Ausblick auf den Monte Rosa. Eine Herde Rinder hatte sich um die Hütte eingefunden und versperrten uns nach dem Frühstück teilweise den Weg zurück in die Hütte. Zum Glück waren sie friedlich, und wir konnten sie verscheuchen.
Der Abstieg ins Val Loana auf ausgetretenen Wegen beendete diese Wanderung. Dort begann auch bald wieder Zivilisation mit Straße, Ferienhäusern, Menschen und Autos.
Nach einem Kaffee in Malesco ging es dann auf den Heimweg.
Trotz seiner relativ geringen Höhe sind die Berge im Nationalpark Valgrande teilweise sehr herausfordernd für einfacher Wanderer. Trittsicherheit und gute Kondition sind durchaus von Vorteil. Solange man auf markierten oder gut dokumentierten unmarkierten Wegen bleibt, sind auch die Chancen sich zu verlaufen gering. Die Hütten zur freien Benutzung sind ein großer Komfort. Obwohl wir zur Sicherheit Zelte dabei hatten, haben wir sie nicht ein einziges Mal gebraucht. Neben den offiziellen und privaten Bivacci sind auch manche verfallenen Hütten durchaus noch für eine Unterkunft zu gebrauchen, auch wenn man da auf manchen Luxus wie einen Ofen mit Feuerholz, einen Schlafboden oder eine Tür verzichten muss. Trotzdem ist die Gegend, zumindest außerhalb der Schulferien, nicht überlaufen.